Geschäftsbericht 2011 für die Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg

Datum: 14.02.2012

Kurzbeschreibung: 

Geschäftsbericht 2011
für die Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg

1. Die Arbeitsgerichtsbarkeit benötigt endlich eine ausreichende Anzahl von Planstellen in der ersten Instanz

2. Das Landesarbeitsgericht hat die höchsten Verfahrenseingänge seit seinem Bestehen zu verkraften

3. Interessante Verfahren in der Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg im Jahr 2011

Anhang:

-  Terminsvorschau für das Jahr 2012

-  Entwicklung der Rechtsprechung nach dem „Emmely“-Urteil des Bundesarbeitsgerichts

-  Untätigkeit des Gesetzgebers im Arbeitsrecht
 
          
1. Die Arbeitsgerichtsbarkeit benötigt endlich eine ausreichende Anzahl von Planstellen in der ersten Instanz

Leider ist es bei den Haushaltsberatungen im Jahr 2011 nicht gelungen, die von den Arbeitsgerichten erster Instanz dringend benötigten Planstellen zu erhalten. Seit vielen Jahren verfügt die Arbeitsgerichtsbarkeit in der ersten Instanz über zu wenig Planstellen. Die wegen der hohen Geschäftsbelastung schon im Jahr 1993 (!) zugewiesenen Stellen wurden nicht als Planstellen, sondern nur als sog. kw (=künftig wegfallende)-Stellen bewilligt. Trotz anhaltend hoher Belastung wurden die kw-Stellen nicht in Planstellen umgewandelt, sondern von Haushalt zu Haushalt mit einem jeweils verlängerten kw-Vermerk versehen. Die Verlängerung erfolgte in der Erwartung, dass die Eingangszahlen wieder auf den Stand der Jahre 1990/91 (rd. 40.000 Verfahren) zurückgehen würden und die Stellen wieder gestrichen werden könnten. Diese Folge trat allerdings nie ein. Zuletzt waren 16 kw-Stellen im Richterbereich mit einem kw-Vermerk versehen; das sind 18 % der erstinstanzlichen Stellen. Nach den Haushaltsanmeldungen des Justizministeriums für das Jahr 2012 sollten 10 kw-Stellen in Planstellen umgewandelt werden und 6 kw-Vermerke verlängert werden. Dieser Vorschlag hätte einerseits der Arbeitsgerichtsbarkeit die erforderliche Planungssicherheit und andererseits dem Justizministerium die notwendige Flexibilität für einen eventuellen Stellenabbau gegeben.

Leider ist es im Rahmen der Haushaltsberatungen 2012 nicht gelungen, eine Verstetigung wenigstens eines Teils der kw-Stellen zu erreichen. Mehr als eine erneute Verlängerung der 16 kw-Stellen um ein Jahr konnte das Justizministerium nicht durchsetzen. Für die Arbeitsgerichtsbarkeit ist es äußerst unbefriedigend, wenn sie als einzige (kleine) Gerichtsbarkeit einen so hohen Anteil an kw-Stellen zu verkraften hat. Die negativen Folgen liegen auf der Hand: Mangels Planstellen können viele Proberichter (Berufsanfänger) in der Arbeitsgerichtsbarkeit nicht zu Richtern auf Lebenszeit ernannt werden, sondern müssen nach einiger Zeit in andere Gerichtsbarkeiten oder zur Staatsanwaltschaft wechseln. Die Arbeitsgerichtsbarkeit hat hierdurch bei der Personalgewinnung einen erheblichen Nachteil. Denn die am Arbeitsrecht besonders interessierten Juristinnen und Juristen werden von einer Bewerbung für die Arbeitsgerichtsbarkeit des Landes abgehalten. Die mit der Proberichterrotation verbundenen häufigen Richterwechsel führen außerdem zu Reibungsverlusten und belasten die Parteien mit überflüssigen Verzögerungen. Die Arbeitsgerichtsbarkeit benötigt daher in erster Instanz endlich eine ausreichende Anzahl von Planstellen.

Trotz der anhaltend guten Konjunktur und den daraus folgenden moderaten Verfahrenseingängen konnten die Arbeitsgerichte erster Instanz im Jahr 2011 nur mit Hilfe der
16 kw-Stellen den für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer wichtigen zügigen Rechtsschutz gewährleisten. Die durchschnittliche Verfahrensdauer, die im Jahr 2010 3,4 Monate betragen hatte, sank im Jahr 2011 leicht auf 3,1 Monate ab. Auch die Bestände, also auch die Zahl der am Jahresende unerledigten Verfahren, verringerte sich erneut, wenn auch nur leicht. Während Ende des Jahres 2010 13.938 Verfahren unerledigt waren, betrug die Zahl Ende des Jahres 2011 nur noch 12.580 Verfahren. Die Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichte erster Instanz haben also die Zeit des moderaten Verfahrenseingangs dazu genutzt, um die Zahl der unerledigten Verfahren im Interesse der Parteien weiter zu reduzieren.

Obwohl die Verfahrenseingänge bei den Arbeitsgerichten erster Instanz stets ein Spiegelbild der Konjunktur sind, schlug sich die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt in einem nahezu unveränderten Verfahrensgang nieder. Am Jahresende belief sich die Zahl der Eingänge auf 45.963 (Vorjahr: 47.202). Die trotz guter Konjunktur im Wesentlichen gleichgebliebenen Verfahrenseingänge deuten darauf hin, dass es eine Entwicklung „nach unten“ nicht geben wird. Nach Auffassung der Verbände und der Wirtschaftsexperten ist die wirtschaftliche Entwicklung im Jahr 2012 mit großen Unsicherheiten belastet. Da die Eingänge bei den Arbeitsgerichten erster Instanz stets gegenläufig den Konjunkturzyklen folgen, spricht einiges dafür, dass sich die Situation schnell ändern könnte.
      
    
2. Das Landesarbeitsgericht hat die höchsten Verfahrenseingänge seit seinem Bestehen zu verkraften

Das Landesarbeitsgericht hatte angesichts der guten Konjunktur für das Jahr 2011 ebenfalls einen moderaten Verfahrenseingang erwartet. Aufgrund einer besonderen Entwicklung ist aber das Gegenteil eingetreten: Das Landesarbeitsgericht hatte die höchsten Eingänge seit seinem Bestehen zu verkraften. So gingen im Jahr 2010 insgesamt 3.005 Rechtsmittelverfahren ein. Mit diesem Eingang waren die Kammern des Landesarbeitsgerichts in einem vertretbaren Umfang belastet. Ende des Jahres 2011 waren 4.009 Verfahren (aufgeteilt in 2.999 Berufungsverfahren, 157 Beschwerdeverfahren in Beschlusssachen und 853 sonstige Beschwerdeverfahren) zu verzeichnen. Dies entspricht einem Anstieg von rd. 33 %.

Die alleinige Ursache für diesen rasanten Anstieg war, dass das Landesarbeitsgericht seit Beginn des Jahres 2011 mit Verfahren betreffend die Betriebsrentenanpassung bei der Firma IBM förmlich „überschwemmt“ wurde. Von den 2.999 Berufungsverfahren betrafen knapp 40 % die Betriebsrentenverfahren gegen die Firma IBM. Es ist zwar im Arbeitsrecht nicht ungewöhnlich, dass immer wieder sogenannte Masseverfahren bei den Arbeitsgerichten eingehen. Den Hintergrund hierfür bilden meist große Personalanpassungsmaßnahmen der Unternehmen. Dass aber gegen ein einzelnes Unternehmen in einem Umfang wie im Jahr 2011 Verfahren anhängig sind, ist in der Geschichte der Arbeitsgerichtsbarkeit des Landes einmalig.

Die Betriebsrentenverfahren gegen die Firma IBM gehen durchweg darauf zurück, dass die Firma IBM vor allem in den Jahren 2008 und 2009 nach Auffassung der Betriebsrentner eine zu geringe Betriebsrentenanpassung vorgenommen hat. Die Betriebsrentner beanstanden, die Firma IBM habe den Anpassungsentscheidungen einen unrichtigen Prüfungszeitraum zugrundegelegt. Sowohl das Arbeitsgericht Stuttgart als auch das Landesarbeitsgericht gaben den Betriebsrentnern Recht. Die von der Firma IBM gegen die Urteile des Landesarbeitsgerichts eingelegten Nichtzulassungsbeschwerden wies das Bundesarbeitsgericht mit der Begründung zurück, die Urteile des Landesarbeitsgerichts stünden mit der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung in Einklang.

Trotzdem treibt die Firma IBM jedes Verfahren durch alle Instanzen. Eine zeit- und kostensparende Erledigung der Prozesse durch ein Pilotverfahren, dessen Ergebnis für die Folgeverfahren übernommen wird, lehnt die Firma IBM ab. Diese Prozesstaktik hat für das Arbeitsgericht Stuttgart, erst recht aber für das Landesarbeitsgericht erhebliche Folgen für die Arbeitsbelastung. Der - verhältnismäßig kleine - Personalkörper des Landesarbeitsgerichts ist auf ein Masseverfahren dieser Art überhaupt nicht eingerichtet. Um die Verfahren überhaupt noch bewältigen zu können, mussten die Verfahren nicht nur an die an sich zuständigen Kammern Stuttgart des Landesarbeitsgerichts, sondern auch an die auswärtigen Kammern in Freiburg und Mannheim verteilt werden. Rein rechnerisch wären 5,5 weitere Richterstellen (ausgehend von 18,5) erforderlich gewesen, um die Verfahrensflut zu bewältigen.

Durch die gemeinsame Anstrengung aller Berufungsrichterinnen und -richter und durch die Abordnung von Richtern aus der ersten Instanz ist es bisher gelungen, die Auswirkungen des Masseverfahrens auf die anderen Parteien in Grenzen zu halten. So ist die Verfahrensdauer im Jahr 2011 im Vergleich zum Vorjahr nicht angestiegen; sie beträgt rund sechs Monate. Das Anwachsen der Bestände konnte jedoch nicht vermieden werden. Die Zahl der unerledigten Verfahren stieg von 1.140 im Jahr 2010 auf 1.548 im Jahr 2011.

Es ist es zwar nicht rechtlich, aber ethisch bedenklich, wenn eine einzelne Firma die höchstrichterliche Rechtsprechung ignoriert und damit ein Masseverfahren in einem noch nie dagewesenen Umfang auslöst. Die Verfahrensflut wird beim Landesarbeitsgericht voraussichtlich das ganze Jahr 2012 anhalten, weil noch zahlreiche Verfahren beim Arbeitsgericht Stuttgart anhängig sind. In den neueren Verfahren kommt hinzu, dass verschiedene Betriebsrentner nun auch die Berechnung der sogenannten Grundrente, also die Berechnungsgrundlage für die künftigen Betriebsrentenanpassungen, angegriffen haben. Diesen Streitkomplex hat das Arbeitsgericht Stuttgart Ende des letzten Jahres bisher zugunsten der Firma IBM entschieden. Die Berufungsverfahren sind jetzt beim Landesarbeitsgericht anhängig. Die Verfahren werden immer unübersichtlicher und die Rechtsfragen komplexer.


3. Interessante Verfahren in der Arbeitsgerichtsbarkeit Baden-Württemberg im Jahr 2011

Im Jahr 2011 wurden bei den Arbeitsgerichten und beim Landesarbeitsgericht zahlreiche interessante, zum Teil öffentlichkeitswirksame Verfahren verhandelt. Die nachfolgende Übersicht stellt nur einen Ausschnitt dar.

a) Anfechtung einer Betriebsratswahl wegen fehlerhafter Zuordnung von Angestellten als Leitende Angestellte in der Zentrale der Fa. Daimler AG

Die Beteiligten eines Beschlussverfahrens stritten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl in der Zentrale der Fa. Daimler AG. Anlässlich der Betriebsratswahl vom 10. März 2010 war ein 39-köpfiger Betriebsrat gewählt worden. Vier Arbeitnehmer fochten diese Wahl mit der Begründung an, vor der Wahl seien 636 Arbeitnehmer der sogenannten Führungsebene E3 zu Unrecht von der Betriebsratswahl ausgeschlossen und den Leitenden Angestellten zugeordnet worden.

Ebenso wie das Arbeitsgericht hielt das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg mit Beschluss vom 29. April 2011 - 7 TaBV 7/11 - die Betriebsratswahl für unwirksam. Zur Begründung führte das Landesarbeitsgericht aus, die Arbeitnehmer der Führungsebene E3 seien keine Leitenden Angestellten im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes. Keiner dieser Angestellten verfüge über eine selbständige Einstellungs- und Entlassungsbefugnis, habe Generalvollmacht oder Prokura oder sei aufgrund der Wahrnehmung von unternehmerischen Aufgaben mit einem erheblichen Entscheidungsspielraum den Leitenden Angestellten zuzuordnen. Die von Arbeitgeber und Betriebsrat getroffene Abrede über die Zuordnung der Arbeitnehmer der Führungsebene E3 zu den Leitenden Angestellten widerspreche den gesetzlichen Vorschriften. Die Absprache habe ersichtlich betriebspolitischen Charakter. Damit habe der Wahlvorstand eine offensichtlich fehlerhafte Zuordnung vorgenommen.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts hatte zur Folge, dass in der Zentrale der Daimler AG im November 2011 eine erneute Betriebsratswahl durchgeführt werden musste.

b) Außerordentliche Kündigung eines Betriebsratsmitglieds wegen heimlicher Übertragung einer Betriebsratssitzung an Dritte im Kaufhaus Breuninger

Die Klägerin war Mitglied des Betriebsrats im Stuttgarter Kaufhaus Breuninger. In dem 23-köpfigen Betriebsrat gab es Spannungen zwischen verschiedenen Betriebsratsfraktionen. Während einer Betriebsratssitzung legte die Klägerin ihr Mobiltelefon in eine vor ihr befindliche Sammelmappe. Aufgrund von Geräuschen entstand der Eindruck, dass die Klägerin ihr Mobiltelefon dazu einsetzte, Dritten das Mithören der Betriebsratssitzung zu ermöglichen. Nachdem die Klägerin im Rahmen der nachfolgenden Anhörung nach Auffassung des Arbeitgebers keine ausreichende Erklärung der Vorgänge abgeben konnte, kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis fristlos. Der Betriebsrat hatte der Kündigung zuvor zugestimmt.

Wie schon das Arbeitsgericht erachtete auch das Landesarbeitsgericht die fristlose Kündigung mit Urteil vom 9. September 2011 -17 Sa 16/11 - als rechtsunwirksam. Zur Begründung führte das Landesarbeitsgericht aus, es stelle zwar eine Verletzung der Pflichten als Betriebsratsmitglied und eine Verletzung eines Arbeitsvertrags dar, wenn ein Betriebsratsmitglied Dritten das Mithören einer - nicht öffentlichen - Betriebsratssitzung ermögliche. Dafür, dass die Klägerin Dritte habe absichtlich zuhören lassen, gebe es aber keinen ausreichenden Beweis. Es bestehe zwar ein dringender Verdacht. Dieser genüge aber im vorliegenden Fall nicht für die Annahme, dass allein der Verdacht das Vertrauen des Arbeitgebers in die Klägerin unwiederbringlich zerstört habe. Eine Abmahnung sei nicht entbehrlich gewesen.

c) Abgeltung von Urlaubsansprüchen bei durchgehender Arbeitsunfähigkeit

Der Kläger war vom Jahr 2006 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis am 30. November 2010 arbeitsunfähig erkrankt. Er begehrte vom Arbeitgeber die Abgeltung seiner Urlaubsansprüche der Jahre 2007 bis 2009. Er berief sich hierbei auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 20. Januar 2009 - C 350/06, wonach gesetzliche Urlaubsabgeltungsansprüche dann nicht erlöschen, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des sogenannten Übertragungszeitraums (meist der 31. März des folgenden Jahres) arbeitsunfähig krank war. Das Urteil hatte zur Folge, dass die Arbeitgeber den langzeiterkrankten Arbeitnehmern den u.U. über Jahre hinweg angesammelten Urlaub abzugelten hatten.

Diese Rechtsprechung stieß auf erhebliche Kritik. Das Landesarbeitsgericht Hamm legte daraufhin dem Europäischen Gerichtshof erneut einen Rechtsstreit zur Entscheidung vor. Hierauf entschied der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 22. November 2011 - C-214/10, dass eine Ansammlung von Urlaubsansprüchen über mehrere Jahre hinweg nicht geboten sei und eine nationale Regelung mit einer Begrenzung des Übertragungszeitraums auf 15 Monate unionsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Der Europäische Gerichtshof ließ jedoch offen, ob eine solche Begrenzung dem Gesetzgeber vorbehalten sei oder ob auch die Gerichte eine entsprechende Begrenzung vornehmen dürften. Hierzu entschied - soweit bekannt als erstes Gericht - das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg, Kammern Freiburg, mit Urteil vom 21. Dezember 2011 - 10 Sa 19/11, dass Urlaubsansprüche bei durchgehender Arbeitsunfähigkeit spätestens 15 Monate nach Ende des Urlaubsjahrs untergingen und daher nicht abzugelten seien.

       
Dr. Eberhard Natter
Präsident des Landesarbeitsgerichts
          
          
1. Anlage zum Geschäftsbericht 2011 1. Anlage zum Geschäftsbericht 2011 (PDF, 12 K)

1. Anlage zum Geschäftsbericht 2011 2. Anlage zum Geschäftsbericht 2011 (PDF, 19 K)

1. Anlage zum Geschäftsbericht 2011 3. Anlage zum Geschäftsbericht 2011 (PDF, 13 K)

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